COVID-19 im Vertragsmanagement

Jetzt, da wir fast sicher sind, dass das Vertragsmanagement de facto vom Projektmanagement abgegrenzt werden kann und sowohl Gold Plating als auch Scope Creep vermeidet, stellt sich eine neue Frage: Wie können unvorhergesehene Risiken das Vertragsmanagement, Verträge und Projekte wesentlich beeinflussen? Dies bringt uns noch näher an die sorgfältige Analyse der Frage, ob "unbekannte unbekannte" Risiken akzeptiert werden müssen, um vertragliche Verpflichtungen zu modifizieren.
Ein Bild der Erde, wie sie eine Maske trägt.[1]

Stillschweigende Verträge versus schriftliche Verträge

Ein Vertrag ist eine Vereinbarung zwischen zwei oder mehreren Personen und wird im Allgemeinen in zwei Arten unterteilt: Mündlich und nicht mündlich.

Bei einem mündlichen Vertrag handelt es sich in der Regel um eine mündliche oder stillschweigende Vereinbarung, die rechtlich ebenso durchsetzbar ist, wie andere Vertragsarten. Die Herausforderung bei mündlichen Verträgen besteht darin, dass alle Parteien aufrichtig sein und zu ihrem Wort stehen müssen, damit sie funktionieren. Stirbt beispielsweise eine Vertragspartei oder verliert ihr Gedächtnis, kann es sehr schwierig sein, die Vereinbarung durchzusetzen, wenn die mündliche Vereinbarung nicht aufgezeichnet wurde und dadurch Raum für Streitigkeiten entsteht.

Ein nonverbaler Vertrag ist eine Vereinbarung, die dokumentiert und von den Vertragspartnern unterschrieben wird. Früher wurden Verträge auf Papier gedruckt und mit einer handschriftlichen Unterschrift versehen. Heute können sie dank der Technologie auch online dokumentiert und von den Parteien mit einer elektronischen Signatur unterzeichnet werden.

Für beide Arten von Verträgen gelten die gleichen, sich überschneidenden Risiken.

Arten von Vertragsrisiken

Zunächst ist es entscheidend zu ermitteln, ob es sich um einen Waren-, Bau- oder Dienstleistungsvertrag handelt, anschließend muss bestimmt werden, welche Art von Risiken der Vertrag abschwächen, vermeiden oder eindämmen muss, um den Erfolg der Durchführung zu gewährleisten.

Es gibt vier Haupttypen von Vertragsrisiken - bekannte bekannte, bekannte unbekannte, unbekannte bekannte und unbekannte unbekannte.

Bekannte bekannte Risiken:
Dies sind die Arten von Risiken, die allen Parteien in der Phase der Vertragsentwicklung bewusst sind. Ein sehr einfaches Beispiel: Ein Unternehmen beschließt, einen Fahrdienst zu gründen und weiß, dass ein anderes Unternehmen in das gleiche Geschäft einsteigen könnte und mit ihm konkurriert. Das Risiko ist also von Anfang an bekannt.

Bekannte unbekannte Risiken:
Dies sind die Arten von Risiken, die zu Beginn eines Vertragsverhältnisses bekannt sind, deren Auswirkungen jedoch erst dann bestimmt werden können, wenn sie tatsächlich eintreten. Ein sehr einfaches Beispiel ist die wissenschaftliche Tatsache, dass der japanische "Archipel in einem Gebiet liegt, in dem mehrere kontinentale und ozeanische Platten aufeinandertreffen, was zu häufigen Erdbeben und dem Vorhandensein zahlreicher Vulkane und heißer Quellen in Japan führt. Wenn Erdbeben unterhalb oder in der Nähe des Ozeans auftreten, können sie Tsunamis auslösen." Das bedeutet, dass jedes Unternehmen, das in Immobilien in Japan investieren möchte, weiß, dass das Risiko besteht, dass sich in Japan jederzeit ein Erdbeben ereignen kann. Der unbekannte Teil des Risikos besteht darin, welche Stärke das nächste Erdbeben haben kann und welche Auswirkungen es auf die Investition haben kann.

Unbekannte bekannte Risiken:
Diese Arten von Risiken sind sehr selten. Sie fallen in die Kategorie, in der bekannt ist, dass ein Risiko eintreten kann, und die Vertragsparteien dennoch in dem Wissen handeln, dass es ein unvermeidliches Element der Vertragsbeziehung ist. Der Versuch, den Mars zu besiedeln, ist ein Beispiel dafür. Es ist ein bekanntes Risiko, dass "der Mars keine schützende Magnetosphäre wie die Erde hat", was die Strahlenbelastung erhöht und für die Kolonisierung gefährlich macht. Nach Angaben von Marspedia liegt die durchschnittliche natürliche Strahlenbelastung auf dem Mars bei 240-300 mSv pro Jahr. Das ist etwa das 40-50-fache des Durchschnitts auf der Erde. Die genauen Auswirkungen, die die Strahlenbelastung auf dem Mars auf den Menschen haben kann, müssen die Wissenschaftler noch ermitteln (unbekannt). Sie sind sich jedoch sicher, dass die Strahlungswerte definitiv ein Risiko für den Menschen darstellen (bekannt). Dennoch dämpft dieses unbekannte Risiko nicht den Elan einiger Investoren die den Mars um jeden Preis kolonisieren wollen.

Unbekannte unbekannte Risiken:
Dies sind die Arten von Risiken, die unvorstellbar, unvorhersehbar oder undenkbar sind. Dabei geht es nicht nur um das Risiko selbst, sondern auch um das geografische Ausmaß des Risikos, die eintretenden Störungen des Risikos und die Folgen, die sich aus dem Versuch ergeben, das Risiko einzudämmen, abzuschwächen oder seine Ausbreitung zu vermeiden. Ein aktuelles Beispiel dafür ist COVID-19. Das Potenzial einer Virusinfektion, die Teile der Welt betrifft, war vorstellbar, aber ein Virus, das weltweit zu so viel Verwüstung, so viel Tod und so viel Ungewissheit führt, macht COVID-19 zu einem traurigen Paradebeispiel für ein unbekanntes unbekanntes Risiko.

Die Geschichte hinter COVID-19

Nun sind wir uns sicher, dass COVID-19 ein Beispiel für ein unbekanntes unbekanntes Risiko ist. Doch wie ist es entstanden? Warum hat es so lange gedauert, bis man es entdeckt hat? Wann wird es die nächste Mutation geben? Wie viele Wellen wird es noch geben, bis das Virus eingedämmt ist und wie viele Menschen werden noch sterben? Einige dieser Fragen werden in absehbarer Zukunft wahrscheinlich nicht beantwortet werden. Obwohl COVID-19 ein unbekanntes unbekanntes Risiko ist, werden auch in Zukunft Verträge abgeschlossen werden.

COVID-19 wird durch eine Infektion mit dem SARS-CoV-2 Virus verursacht. Als Ursprungsort ist Wuhan, China, im Jahr 2019 dokumentiert. Bis zum 2021-12-29 sind über 5.400.000 Menschen gestorben. Um eine bessere Vorstellung von der Zahl der Todesopfer zu bekommen: Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Schweiz oder über 140-mal die gesamte Bevölkerung Liechtensteins.

Leider ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Ende von COVID-19 in absehbarer Zeit nicht vorstellbar.

Höhere Gewalt

Das Eintreten oder Nichteintreten eines Ereignisses, welches die Durchführung eines Vertrags für eine oder alle Vertragsparteien unmöglich macht, wird in einem Vertrag als Höhere Gewalt, oder auch "Härtefallklausel" festgehalten.

Diese Vertragsbestimmungen dienen in der Regel als Schutz vor bekannten und unbekannten Risiken, die sich während der Laufzeit des Vertrags negativ auswirken können. Dazu können beispielsweise Staatsstreich, Terrorismus, Erdbeben, Wirbelstürme, Blitzschlag oder Explosionen gehören. Interessanterweise ist mir noch kein Vertrag untergekommen, bei dem eine weltweite Virusinfektion vor dem 2019-12-31 als höhere Gewalt in Betracht gezogen wurde.

Ist Covid-19 als höhere Gewalt oder menschliches Versagen einzustufen? Die Antwort auf diese Frage wird weitreichende Folgen für den Umgang mit den meisten Pauschalentschädigungen haben.

Wie sich COVID-19 auf Verträge ausgewirkt hat

Einer der wichtigsten Faktoren bei allen Verträgen ist die Lieferkette. COVID-19 hat einen Bullwhip-Effekt innerhalb der Lieferketten ausgelöst, sodass die meisten Verträge heute neu gestaltet werden müssen, um eine erfolgreiche Durchführung zu gewährleisten. Einfach ausgedrückt: Millionen von Verträgen wurden und werden gerade gekündigt. Menschen sind die entscheidenden Akteure bei der Umsetzung von Verträgen. Während der Pandemie könnte in stark betroffenen Gebieten, wie z.B. in der Lombardei, Italien, der Fall eingetreten sein, dass alle Beteiligten einer Lieferkette, die für die Umsetzung eines bestimmten Vertrags erforderlich waren, durch eine COVID-19 Erkrankung verstorben sind.

COVID-19 hat den Flugverkehr irgendwann zum Erliegen gebracht. Sowohl lokale als auch internationale Flüge wurden gestrichen. Anhand der gestrichenen Flüge als Beispiel für die Auswirkungen von COVID-19 auf die Auftragslage stellt die IATA fest: "Die vom Luftverkehr unterstützten Arbeitsplätze gingen potenziell um 46 Millionen auf 41,7 Millionen zurück (-52,5 %).  Die direkten Arbeitsplätze in der Luftfahrt (bei Fluggesellschaften, Flughäfen, Herstellern und im Flugverkehrsmanagement) gingen um 4,8 Millionen zurück (ein Rückgang um 43 % im Vergleich zu Vor-Corona)." Ganz zu schweigen von der Unterbrechung von Verträgen über die Lieferung von Flugzeugtreibstoff, der Schließung von Cafés, Hotels oder Souvenirläden an Urlaubsorten. Die Auswirkungen von COVID-19 auf die Verträge werden möglicherweise nie genau gemessen oder quantifiziert werden können.

Fazit

Ich bin mir nicht sicher, ob COVID-19 als höhere Gewalt einzustufen ist. Ich bin mir allerdings auch nicht sicher, ob das Ausmaß des Virus durch menschliches Versagen verursacht wurde. Bei der Entscheidung dürfen auf keinen Fall die enormen zerstörerischen globalen Auswirkungen ignoriert werden. Bei alledem ist eins sicher: Das Virus hat die Vertragsdurchführung weltweit in unvorstellbarem Ausmaß beeinträchtigt.
Die Herausforderung, der sich Vertragsverwalter, -manager und -spezialisten wahrscheinlich noch lange stellen werden, wird darin bestehen, wie man in diesem Chaos wirklich feststellen kann, ob die Unfähigkeit, einen Vertrag auszuführen, nicht auf Ineffizienz, sondern auf COVID-19 zurückzuführen ist.
Autor: Dr. Nana Sackey PhD ist ein Vertragsportfolio-Spezialist mit mehrjähriger Erfahrung in der innovativen Auftragserteilung in den Bereichen Schifffahrt, Telekommunikation, Verwaltung finanzierter Projekte und im akademischen Bereich. Er ist Certified Agile Project Manager (IAPM), hat einen M.Sc. in Procurement und einen PhD in Contract Management. Er hat in der Vergangenheit mehrere Unternehmensschulungen zu den Themen Vertragsverwaltung, Kostenschätzung, Ausgabenanalyse und Risikomanagement im Projektportfolio geleitet.
Er ist glücklich verheiratet mit Debbie, mit der er drei Kinder – Iden, Ibby und Ilse – hat.

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Schlagworte: Projektmanagement, Vertragsmanagement, Wissen, Ratgeber

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