Hat die Protest-Bewegung vom Taksim-Platz ein ausgeprägtes Bewusstsein für Projektmanagement?

Hat die Protest-Bewegung vom Taksim-Platz ein ausgeprägtes Bewusstsein für Projektmanagement? 13.06.2013 - Eine Baumfäll-Aktion war der Auslöser, mittlerweile wurde aus der Besetzung eines kleinen Parks im Zentrum von Istanbul eine Protestwelle mit Millionen-Beteiligung. Aus Anlass der bürgerkriegsartigen Bilder vom Takism-Platz sprach der Journalist Martin Droschke mit Roland Ottmann, PM-Trainer und Vorsitzender des IAPM Fachbeirats, um das Vorgehen von Ministerpräsident Erdogan und der Protestbewegung aus der Sicht eines Projektmanagers zu analysieren.

Der türkische Präsident Erdogan hat aktuell ein Projekt, das stark in die Krise geraten ist. Kann man als Coach für Projektmanagement etwas Sinnstiftendes zu seinem Vorgehen sagen?

Roland Ottmann: Wenn man als Außenstehender die ganze Sache verfolgt, hat man nur einen sehr begrenzten Zugang zu wirklich relevanten Informationen. Es kommen zwei weitere Schwierigkeiten dazu, nämlich die Zuverlässigkeit der Informationsquellen und eine im Vergleich zu Deutschland doch andersartige Gesellschaft und Führung. Ich müsste mich jetzt in die Gedankenwelt des türkischen Präsidenten versetzen, seine Ziele kennen und dann könnte man interpretieren. Am Ende könnte ich nur spekulieren. Um ein Projekt erfolgreich aus der Krise zu führen, müssen alle Fakten auf dem Tisch liegen. Die Positionen der Stakeholder, die in diesem Fall die politische Führungsschicht der Türkei, die Lobbyisten und sicherlich weitere Personenkreis sind, müssten bekannt sein. Ebenso müssten die Ziele klar definiert sein. Dies ist schon deshalb nicht gegeben, da sich die Protestbewegung inhaltlich ständig neu formiert, die Politik entsprechend immer wieder neu reagiert und weil es auch Ministerpräsident Erdogan mit Sicherheit eigentlich um etwas ganz anderes beziehungsweise viel mehr geht als ein Einkaufszentrum im Herzen von Istanbul. Aber der Ansatz Ihrer Frage ist durchaus berechtigt. Aus der Sicht eines Coaches zeigen die Ereignisse in der Türkei genau die Strukturen und Abläufe, die ein in die Krise geratenes Großprojekt kennzeichnen. Wir können hier genau jenen Zeitpunkt studieren, in dem die Steuerbarkeit verloren ging. Mein Kollege Hans Stromeyer hat auf IAPM.net einen Leitfaden gestellt, wie man ein Projekt zurück auf die Erfolgsspur führt. Ich empfehle tatsächlich, die Ereignisse in der Türkei nicht nur aus politischem Interesse zu verfolgen, sondern auch, um als Projektmanager zu lernen. Motto: Einen Worst-Case-Krisenfall mit extremer Dimension auf das herunterzuabstrahieren, was einem auch im Job passieren kann. Die Distanz zwischen den Herausforderungen am Arbeitsplatz und den politischen Ereignissen in Istanbul und Ankara kann tatsächlich helfen, genau die Strukturen zu erkennen, die eine Krise prägen. Dass man in diesem Moment nicht wirklich etwas weiß, keine gesicherten Fakten hat, ist für eine Krise signifikant.


Die Protestbewegung vom Taksim-Platz scheint die typischen Merkmale einer solchen aufzuweisen: Jung, aus der Defensive heraus agierend, in unzählige Untergruppen mit unterschiedlichem Weltbild aufgesplittert, nach außen von Sprechern vertreten, die bei genauem Hinsehen gar nicht dazugehören. Was denkt sich ein Projektmanagement-Coach, wenn er sich in ihrem Sinn eine Strategie überlegt? Kann er hier etwas tun?

Roland Ottmann: Auch hier fehlt es mir an Einblick, beschränkt sich mein Wissenshorizont auf das, was die Medien filtrieren oder was mich im Internet erreicht. Ich glaube aber zu erkennen, dass die Protestbewegung sehr sehr viel richtig macht. Am allerwichtigsten ist hierbei, dass es eine klare Strategie gibt, an die sich offenbar – fast – alle halten. Gemeint ist das Konzept, keine Gewalt anzuwenden, sondern passiv auszuharren, die Proteste als Feiern mit Musik und guter Laune zu inszenieren und immer Humor und Ironie zu zeigen. Außerdem scheint die Vernetzung mittels sozialer Medien hoch professionell zu sein. Die Protestbewegung hat ganz offensichtlich ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, wie wichtig es ist, eine spontane Dynamik durch strategische Planung und ein ausgefeiltes Projektmanagement zu steuern. Das gefällt mir! Auch hier können wir aus der Distanz heraus viel für unsere tägliche Arbeit lernen, wenn wir versuchen, Strukturen zu analysieren. Sehr gespannt bin ich, wie sich das traditionelle Problem fortschreitender Proteste auswirkt, das bald auf die Bewegung zukommen wird. Da die Demonstranten vom Taksim-Platz alles andere als homogen sind und sich aus vielen Gruppen mit sehr unterschiedlichen, teils sehr ideologischen Grundinteressen zusammensetzen, sind Machtkämpfe vorprogrammiert. Das ist nicht anders als in transnationalen Projektteams, in denen viele unterschiedliche Unternehmen, Institutionen, Stakeholder etc. an einem Strang ziehen müssen.


Zur Person:
Dr. Roland Ottmann ist Autor zahlreicher bekannter Fachpublikationen und Geschäftsführer der Ottmann & Partner GmbH - einem der führenden Trainingsunternehmen für Projektmanagement in Deutschland. Er gilt als ausgewiesener Experte für Projektmanagement, hatte über viele Jahre hinweg den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement inne und initiierte 1996 den Deutschen Projektmanagement Award sowie 1998 den International Project Management Award. An der Festlegung der Lehrinhalte für die IAPM-Zertifizierungslehrgänge und der Entwicklung des IAPM- Zertifizierungssystems war Ottmann maßgeblich beteiligt.

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